Jihad und Nato

Während die Hitzewelle den Fastenmonat Ramadan am Nil einleitet, ertranken Freitag über 100 Migranten vor Libyens Küste. Ihre Gesamtzahl überstieg seit Jahresbeginn 1.100. Zum Glück retteten Griechen am selben Tage 300 aus dem Boot südlich von Kreta. Doch Krieg und Armut, die Menschen umtreiben, grassieren fort, ob in Irak und Syrien oder in Libyen.

Österreichs Außenminister meinte, die Rettung aus Seenot dürfe kein Ticket nach Europa sein. Laut Sebastian Kurz gelang es Australien, dass keine Illegalen kommen, keiner mehr ertrinkt. Ebenso könnten Asylzentren auf Inseln im Mittelmeer sein, von wo die Rückkehr unterstützt werde. Grundprinzipien des australischen Modells der Insel Nauru gelten auch für Europa. Die australische Marine weise alle Boote ab. Wer dennoch anlange, werde auf Inseln interniert. Aber der Unterschied zum Mittelmeer: kurze Strecken und lange Kriege.

Mosul am Tigris

Im Nordirak stockt nun der Kampf um Mosul, eigentlich al-Mausil, الموصل. Iraker haben die Stadt am Tigris (Michael Bracken Foto) umzingelt, wo bis 10.000 Jihadis des “Islamstaats”, IS, sind. Doch mahnen über 50.000 Zivilisten darin zur Vorsicht. Premier al-Abadi spaltet seine Kräfte, da er im Bagdad nahen Westirak Falluja angeht, wider den Rat der USMilitärs. Im Irak kämpft Irans Miliz des Jamal Jaafar Ibrahimi. Viele sehen Rachemorde an IS-Sunnis kommen. Teheran hat dort starke Anker, dominiert Iraks Zukunft. Diese oxymoronische Notachse der Iraner und Amerikaner befriedete Teheran nicht. Sie bleibt ein Konfliktherd. Daher, zumal in der Sonnenglut, erfolgt ein IS-Kollaps wohl nicht so rasch.

Viel muss sich ändern. Europäer sind gefragter denn je, aber auch Regionalkräfte. Zwar gibt Berlin 1,2 statt zwei Prozent des Nationalprodukts dem Militär und limitiert sich damit. Doch stärkte Kairo seine Militärkraft, darunter durch zwei Mistral-Hubschrauberträger, die Paris ursprünglich dem Kreml gab, aber wegen der Ukraine-Krise umleitete. Die Ägypter bilden mobile Kommandosfür Ziele am Mittelmeer, Roten Meer und vermutlich in Libyen. Aber auch für Kairo entscheidet: 16 von 90 Millionen aus 1.000 Slums zu holen, das Leben am Nil zu verbessern, was Präsident as-Sisi im dreijährigen Projekt “Tahya Misr” startete.

Zurück zur Nato. Erst verhalf sie beim Sturz al-Qadhdhafis zu einem Machtvakuum, um sich dann abzuwenden. Weder der Pakt noch Berlin oder Paris setzen sich ein. Sie ersuchen um EU- oder UN-Auftrag, obwohl Chancen dazu klein sind, zumal Moskau letzteren wohl stoppt. Ein tödlicher Sommer steht bevor: Eine halbe Million Flüchtlinge warten am Mittelmeer. Kanzlerin Merkel, die diesen Völkerrutsch durch ihre offene Tür mit anreizt, mag noch vor dem oder beim zweitägigen Warschauer Nato-Gipfel am 8. Juli rettend eingreifen.

Was Wunder, Historiker könnten einst die Nato zu Versagern im frühen 21. Jahrhundert zählen: kommt es darauf an, zeigt sie sich unfähig. Setzt sie sich ein, dann ohne Plan B und C. Eine teure bürokratische Überstruktur, die das zügige einzelstaatliche Agieren blockiert und über die Wähler fragen, wieso sie dafür noch zahlen. Die Nato sah zu, wie Moskau die Krim nahm, Irak-Syrien zerfielen, IS-Jihadisten aufkamen, obwohl die Türkei da angrenzt, und Libyen verfiel. Die Missionen Ägäis und Mittelmeer geben Sinn. Verhüten sie weitere Tote, wo bleibt ein 5.000-Mann-Trupp? Oder ähnelt die Nato ihrem EU-Partner in Brüssel als bürokratisches Wesen, das kaum etwas vorhersah, oft versagt und Bürgerzorn erweckt?

Befürchtet, aber vereitelt

Dies gilt nicht für die deutsche Polizei, die am 2. Juni drei vermutete IS-Terroristen in drei Bundesländern arretierte, die in Düsseldorfs Altstadt Massaker planten wie in Paris Mitte November: multiple Attacken mehrerer Suizidbomber mit Sprengwesten in der HeinrichHeine-Allee, weitere Tote durch Gewehre und Sprengsätze. Drei Beschuldigte starteten im Mai 2014 durch die Türkei und Griechenland, lebten seit Mitte 2015 in deutschen Asylheimen. Ein vierter Jihadist, Salih A. in Paris am 1. Februar aussagend, wurde auch angeklagt. Abdarrahman A. K. erhielt Sprengstoff-Training in Syrien und sei vom IS im Oktober 2014 nach Deutschland gesandt worden. Viele Lehren bieten sich hier an, so wie vor 101 Jahren.

Armenier, andere Minoritäten

Der Bundestag nahm am Donnerstag mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung - fast unisono - den Beschluss an, der die Massentötungen und Deportationen von Armeniern im Osmanenreich als Völkermord einstuft. Hier folgen einige grundlegende Aussagen daraus.

Sinngemäß aus Antrag 31. Mai 2016 “Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916", beschlossen im Bundestag, 2. Juni 2016.

*Regime begann am 24. April 1915 planmäßige Vertreibung und Vernichtung über einer Million Armenier.

*Beispiel für Massenvernichtungen, ethnische Säuberungen und Völkermorde, die 20. Jahrhundert prägen.

*Wir wissen dabei um Einzigartigkeit des Holocaust, für den Deutschland Schuld und Verantwortung trägt.

*Bundestag bedauert unrühmliche Rolle des Deutschen Reichs als militärischer Hauptverbündeter des Osma- nenreichs: trotz eindeutiger Informationen zur Vertreibung und Vernichtung kein Versuch, dies zu stoppen.

*Bundestags-Beschluss von 2005 bekräftigte das Gedenken, die historische Aufarbeitung und Versöhnung.

*Zum 100. Gedenktag verurteilten Bundestagsdebatte und Bundespräsident Völkermord an den Armeniern.

*Deutsches Reich trägt Mitschuld an den Ereignissen. Der Bundestag bekennt sich zur Sonderverantwortung.

*Dazu gehört, Türken und Armenier in Versöhnung und Verständigung zu unterstützen. Nötig neue Impulse.

*Schulische, universitäre, politische Bildung und Bundesländer Aufgabe der Aufarbeitung; in die Lehrpläne.

*Opfergedenken unter Berücksichtigung der deutschen Rolle auch für Türken und Armenier - als Mitbürger.

*Ehrliche Aufarbeitung der Geschichte wohl wichtigste Basis für innere und äußere Versöhnung. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Schuld der Täter und der Verantwortung der heute Lebenden. Der Bundestag fordert Bundesregierung auf zur breiten öffentlichen Debatte, türkische Seite dazu für Versöhnung zu ermu- tigen, beiderseits akademische und kulturelle Aktivitäten zu unterstützen, dabei bilateral 2009 Kommission.

Eigentlich sollten Forscher darüber befinden. Aber politische Anstöße sind wichtig, sofern sie Nationalkonsens sind. Zwar ist weiter an allem zu zweifeln, doch kann von der Warte her die deutsch-mittelöstliche Geschichte in Klein- und Großansichten erhellt werden. Es könnte sich erweisen, dass sich Völkermorde im 20. Jahrhundert nicht allein auf nationale Gruppen reduzieren, sondern auf transnationale Wechselbeziehungen verwandter Ideologien samt Trägern aus Räumen wie Mittelost und Europa. Wer das nach 1871 nicht durcharbeitet, kann dem Sog arger Neukombinationen innerer und äußerer Momente verfallen, die so etwas fördern. Der IS belegt es in Mittelost - wie Radikalisierungen der Ränder daheim. Für den Bundestag war es höchste Zeit.

Wolfgang G. Schwanitz ist ein Mittelosthistoriker und Hochberg Family Writing Fellow am Middle East Forum.

A historian of the Middle East, Wolfgang G. Schwanitz is a native of East Germany who was raised in Egypt. He holds a Ph.D. in Middle Eastern Studies from Leipzig University, has taught at five German and American universities, and served as head of Middle Eastern history at the Academy of Science in Berlin. Schwanitz has been a visiting fellow at the French Center in Cairo, Princeton University, and the German Historical Institute in Washington, DC. The author of nine and the editor of ten books, Schwanitz has published some 150 scholarly articles and over 500 newspaper and magazine pieces on modern Middle Eastern history and international relations. He is a fellow at the Middle East Forum.
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I recently witnessed something I haven’t seen in a long time. On Friday, August 16, 2024, a group of pro-Hamas activists packed up their signs and went home in the face of spirited and non-violent opposition from a coalition of pro-American Iranians and American Jews. The last time I saw anything like that happen was in 2006 or 2007, when I led a crowd of Israel supporters in chants in order to silence a heckler standing on the sidewalk near the town common in Amherst, Massachusetts. The ridicule was enough to prompt him and his fellow anti-Israel activists to walk away, as we cheered their departure. It was glorious.