Bürger protestieren gegen den Coup in Tokat. |
Putsch, “Islamstaat” und Jihadisten
Einige erwarteten diesen fünften türkischen Militärputsch nach dem Zweiten Weltkrieg, davon drei mit Erfolg. So fragte Autor Michael Rubin am 21. März, ob es einen Coup gegen Erdoğan geben werde. Sein Beitrag, der drei Tage später nochmals prominenter aufschien, meinte, ob das Militär sich an Ägyptens Abd al-Fattah as-Sisi orientieren könnte, zumal es hierbei kaum schwere Konsequenzen gäbe.
Darin lagen drei Probleme. Niemand nahm an, dies würde schief laufen. Wir sehen harte Folgen für Präsident Erdoğans Opponenten, der wieder nach der Todesstrafe rief. Aber der damalige Vergleich mit Ägypten hinkte, wo eine populäre Petitionsbewegung den ein Jahr regierenden Islamisten Muhammad Mursi im Verbund mit dem Militär absetzte. Kein üblicher Coup d’État also - eine Coupvolte. Leider entgleist Kairo brutal im Umgang mit den Kritikern. In Ankara retteten das Regime Volksteile und Sozialmedien am 15. Juli unter Nationalfahnen in No-Coup-Protesten, hier Tokat, Wiki Foto.
Im größeren Bild divergieren Wege des Politislams in Mittelost. Indes Ägypter und auch Tunesier den Missbrauch der Religion in der Politik in einer einmaligen Art auch zugunsten von Minoritäten wie Juden und Christen grundgesetzlich abbauen, eilten ihnen Putschisten in Ankara “für demokratische und säkulare Rechtsgrundsätze” nach. Gegen das Erbe von Atatürk trieb Recep Tayyip Erdoğan autokratisch eine Islamisierung im Millennium voran.
Er expandiert weiter, was Deutschland, Europa und Amerika betrifft. Dort stellten sich Präsident Obama und Kanzlerin Merkel “gegen den Putsch, für den gewählten Präsidenten, Demokratie und Rechtsstaat”. Präsident as-Sisi blockierte eine ähnliche Resolution im UN-Sicherheitsrat, wonach dieser nicht befinden könne, ob Ankaras Regierung tatsächlich demokratisch gewählt worden sei. Sein Einwand ist nicht ohne, gab es doch im Westen stets Fehlanalysen: Mursis Islamisten erbauten die Demokratie und Wahlen bedeuten das schon. Nicht nur Ägypter wähnen in Ankara diverse Förderer von Gruppen der Globalislamisten.
Verschwörungsideen gehen um, dieser Coup sei selbst inszeniert, um das Präsidialregime durchzusetzen, oder der in Pennsylvania lebende Kritiker Fethullah Gülen stecke dahinter, was dieser und Außenminister Kerry zurückwiesen, und ihre Sorge zeigten, Erdoğan könne diese Lage nutzen, um eine extensive Säuberung von Gegnern auszuführen. Offenbar nehmen Türken lieber ihren nationalistischen Präsidenten als eine weitere Militärregierung an. Allerdings wäre Erdoğans Eingreifen in die Berliner Politik besser zu begegnen, zumal er nicht gerade hervortrat im Kampf gegen den “Islamstaat”, IS. Sicher, er erlaubt wieder die Fliegerbasis İncirlik zu benutzen. Aber auch wenn der IS verschwindet, stehen viele Kräfte des Politislams an, um an dessen Stelle mit Hilfe von Regionalmächten weiter zu machen.
Truckmörder
Demokratien fanden noch keine global praktikable Abwehrpolitik gegen den Politislam als Begriff für die so ähnlich gesinnten Islamstaaten und Bewegungen. Die westliche anti-IS-Taktik geriet so einseitig und langatmig, dass diese sich globalisieren und regionalisieren konnten. Aus dem versuchten Kalifat sprießen bereits wieder Terrortrupps. Dazu fällt ein Mangel an Wissen auf, dieses Phänomen zu begreifen und ihm zu begegnen. Auch in den Demokratien, denn deren Versagen enthüllt Defizite. Radikalisierungen der Ränder folgen.
Muhammad al-Hawiij Buhalal |
In Nizza erhellt der arge Angriff von Muhammad al-Hawiij Buhalal, محمد الحويج بو هلال, dies mit 84 Toten und vielen Verletzten. Am Tage, als die Bürger den Sturm auf die Bastille vom 16. Juli 1789 feierten, da sich ihre Vorfahren, beflügelt durch Amerikas Revolution, des feudalen und klerikalen Absolutismus entledigten, droht ihnen so etwas in der neuen Form des Islamismus, der den Truckmörder antrieb. Nicht nur Europäer stehen nun in den Kämpfen, wo sie um ihre Aufklärung und Demokratie ringen und beide erneuern müssen.
Da hilft es auch nicht weiter, die Islamisten als unbalancierte Leute mit einer schlechten Kindheit darzustellen oder sie alle für verrückt zu erklären. Was auch immer die Umstände seien, sie beseelt wilder Glaubenseifer, organisiert oder im Nachhinein vom IS abgesegnet, so viele “Ungläubige” wie möglich zu töten.
Dass da auch ihre Glaubensgenossen darunter sind, kümmert sie kaum. Der IS verlautete am Unglückstag, Freitag, den 15. Juli, egal, wie sich “Länder der Kreuzfahrer schützen, dies halte Jihadisten doch nicht ab, zuzuschlagen”.
Bürgerkriege?
Wenn Präsident Hollande als Antwort Angriffe im Irak und in Syrien verstärken will, so muss er mit tiefen Zwisten im eigenen Land rechnen. Geheimdienstchef Patrick Calvar sah am 12. Juli das Land am Rande des Bürgerkriegs, wo “Rechte diese Konfrontation suchen”. Was nutzt es, wenn Präsident Obama zu Nizza am 15. Juli von Hassideologien spricht, die den Islam verdrehen, eine Religion, die Gerechtigkeit und Mitfühlen lehre? Und Kanzlerin Merkel will “dem IS überall jeglichen Boden entziehen, damit die Saat des Hasses” nicht mehr aufgehen kann. Doch hat sie diesem Tore geöffnet, sich in Deutschland zu etablieren.
Zuerst fehlte ihr Mittelostpolitik. Dann wehrte sie es über zwei Jahre ab, sich in Syrien-Irak zu engagieren. Im Migrantenschub Mitte des Vorjahres rief sie “Willkommen”, will unentwegt alles Europa aufbürden. Damit leistete sie dem Brexit Vorschub, vielleicht zum Gewinn Präsident Putins, dessen Syrienhebel in diesem Sinne voll wirkt. Berlin kann nicht Londons oder Europas Migrantenkurse diktieren. Die Fehlansicht einer “unwiderstehlichen Interdependenz und Globalisierung”, die den Nationalstaat systematisch zugunsten einer Überbürokratie von ungewählten und durch ihre Wähler nicht direkt zur Rechenschaft zu ziehenden Beamten auszuschalten sucht, trägt zu einem fortgehenden Zerfall Europas bei. Sie kleidet es in “Europas humanitäre Pflicht, jedes andere Verhalten wäre unakzeptabel”.
Auf Angela Merkels Habenseite sind die Nato, die nach dem Warschauer Gipfel am 8. Juli Moskau wie Cyberkrieg zu widerstehen sucht sowie eine Mission in Mittelost erfüllt. Zwei Gesetze wirken ab 9. Juli: Das Integrationsgesetz, mit dem Berlin auch den legalen Zustrom vermindert, und das “Nein heißt Nein"-Gesetz, das unkonsensualen Sex auch als Reaktion auf das Sylvester-Eklat ahndet. Ja, Merkels post-Brexit-Wege und Theresa Mays Amt sind mit Herausforderungen nur so gepflastert.
Wolfgang G. Schwanitz ist ein Mittelosthistoriker und Hochberg Family Writing Fellow am Middle East Forum.